Zeitenwende in der Medizin

Was sind die neusten Erkenntnisse aus der Präzisionsmedizin? Der diesjährige Jahresanlass von The LOOP Zurich gab einen Überblick über den Stand der Forschung und fragte nach der Akzeptanz der Präzisionsmedizin in der Gesellschaft.

Beatrice Beck Schimmer, Direktorin der Universitären Medizin Zürich, betonte in ihrer Ansprache die grosse Reichweite der LOOP-Forschungsprojekte, welche medizinische Erkenntnisse möglichst rasch zur Anwendung bringen möchten.

Jens Selige, Geschäftsführer von The LOOP Zurich, begrüsste am vergangenen Mittwoch das zahlreich erschienene Publikum zum dritten Jahresanlass von The LOOP Zurich, dem gemeinsamen medizinischen Forschungszentrum der Universität Zürich, der ETH Zürich und den vier universitären Spitälern. Mit einem Augenzwinkern kündigte Selige einen Überraschungsgast an: Und schon erschien ein KI-animierter Avatar des ersten Dekans der medizinischen Fakultät der Universität Zürich, Johann Lukas Schönlein, auf der Leinwand. Schönlein vollzog um 1800 eine Zeitenwende in der Medizin vom naturphilosophischen Ansatz hin zu einem naturwissenschaftlichen. «Ich habe einen Traum», sprach es. «Die Künstliche Intelligenz wird die Medizin transformieren, hin zur Präzisionsmedizin. Diagnostik und Behandlungspläne werden sich beschleunigen, besonders in der Onkologie. Therapien werden gezielt auf genetische Profile abgestimmt und Biomarker liefern frühe Indikatoren. Die Patientenüberwachung wird revolutioniert, Prognosemodelle analysieren genetische Daten und Lebensstil, um Risiken besser einzuschätzen und Früherkennung sowie Prävention zu fördern», so Schönlein.

Was 1833 – zur Zeit der Gründung der Universität Zürich und Schönleins Wirken – kaum vorstellbar war, wird heute Realität. Die künstliche Intelligenz sei dabei ein treibender Faktor, so Selige.

Erfolgreiche Projekte und Start der Biomedizinischen Informatikplattform

Beatrice Beck Schimmer, Direktorin Universitäre Medizin Zürich und Gründungsmitglied von The LOOP Zurich, betonte in ihrer Ansprache die grosse Reichweite der LOOP-Forschungsprojekte, deren Ziel es jeweils sei, medizinische Erkenntnisse möglichst rasch zur Anwendung bringen. Damit werde ein Mehrwert für die Gesellschaft geschaffen.

Julia Dannath-Schuh, Vizepräsidentin Personalentwicklung und Leadership an der ETH Zürich, betonte, wie wichtig es sei, die translationale Forschung zu stärken. Sie plädiere dafür, dass The LOOP Zurich sich langfristig in der Forschungslandschaft etablieren solle.

Die grossen Translationalen Projekte von The LOOP Zurich, wie mTORUS, StimuLOOP, INTeRCePT oder LOOBesity seien auf gutem Weg, sagte Markus Rudin, Gründungsdirektor bei The LOOP Zurich. Jetzt würden die Weichen in Richtung Klinische Anwendung gestellt. Ein weiteres Projekt sei die Biomedizinische Informatikplattform (BMIP), deren erste Beta-Version in den kommenden zwei Monaten getestet werde. «Wir möchten den Aufbau 2025 abschliessen.» Daten, zum Beispiel aus medizinischen Forschungsprojekten der vier universitären Spitäler, werden in der BMIP zusammengeführt, gespeichert und harmonisiert – also in ein Format gebracht, das den Austausch zwischen den einzelnen Spitälern erlaubt. Integriert in die Plattform sollen auch zukünftig die bestehenden Biobanken sein, die unter anderem Gewebeproben enthalten. Für die Daten auf der Plattform gelten dieselben strengen Datenschutz-Anforderungen wie in den Spitälern.

Forschende, die mit den Daten arbeiten wollen, bekommen jetzt schnelleren und einfacheren Zugriff als zuvor. Sie müssen sich nicht mehr um alle rechtlichen- und administrativen Belange kümmern, das sei Sache der Institutionen und Datenbankverantwortlichen. Sobald Forschende eine Bewilligung erhalten hätten, dauere es etwa zwei Wochen, bis sie Zugriff auf die BMIP erhielten. Diese Zielsetzung der BMIP ist ambitioniert, aber für Forschende seien genau das sehr gute Bedingungen. «Wir erwarten im Gegenzug aber auch, dass die Ergebnisse in die Plattform zurückfliessen», sagte Rudin.

Markus Rudin, Gründungsdirektor bei The LOOP Zurich, gab ein Update zur Biomedizinischen Informatikplattform BMIP, die voraussichtlich 2025 vollumfänglich genutzt werden kann.

Zwei neue Inkubator-Projekte

Im Jahr 2024 wurden unter dem Titel «Inkubator» zwei neue Projekte lanciert, die 2025 starten sollen. Das eine der beiden Projekte beschäftigt sich mit der Prävention von systemischer Sklerose (SSC). Das ist eine chronische Autoimmunkrankheit, die zur Verhärtung und Vernarbung von Bindegewebe der Haut und inneren Organen führt und mit einer hohen Sterblichkeit verbunden ist. Mithilfe präzisionsmedizinischer Strategien wollen Forschende Therapien entwickeln, die eine Behandlung ermöglichen, bevor die Krankheit ausbricht. «Es gilt, Risikopatienten früh zu erkennen und Biomarker zu identifizieren», so Rudin.

Das zweite Inkubator-Projekt mit dem Namen «AI-Tumorboard», beschäftigt sich mit der personalisierten Entscheidungshilfe in der Präzisionsonkologie. In den sogenannten Tumorboards besprechen Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen Diagnosen und Behandlungen von Krebsbetroffenen. Ziel ist es, jeder einzelnen Person die richtige Behandlung zuzuweisen. Die Tumorboards des Universitätsspitals Zürich sowie des Kinderspitals sind am neuen Inkubator-Projekt beteiligt. Ein weiteres Projekt ist die UZH-Biobank, sie soll im ersten Quartal 2025 eingerichtet werden. Rudin betonte, dass ohne die unschätzbar grosse Unterstützung der beteiligten Stiftungen all diese Forschung nicht möglich sei und bedankte sich bei den anwesenden Stifterinnen und Stiftern.

Tobias Junt, Direktor der Translationalen Forschung bei Novartis, sprach über die entscheidende Wende, welche die Präzisionsmedizin unter anderem beim Verständnis von molekular verwandten Krankheiten bringen kann.

Molekulare Krankheitsanalyse als Gamechanger

Tobias Junt, Direktor der Translationalen Forschung bei Novartis, zeichnete ein Bild der Präzisionsmedizin aus Sicht der Industrie. Entzündliche Erkrankungen und Autoimmunerkrankungen nähmen zu, so Junt. Allerdings gäbe es bei diesen Krankheiten oftmals eine Wirkungsobergrenze der Medikamente, und nicht alle Patientinnen und Patienten sprächen gleich auf die Medikamente an. Viele Therapien erzielten deshalb nicht die gewünschte Wirkung. Ein präziseres Krankheitsverständnis sei deshalb nötig, ebenso verbesserte klinische Studiendesigns sowie die präzisere, personalisierte Messung klinischer Wirksamkeit.

Enge Zusammenarbeit verschiedener Stakeholder nötig

Auf dem Weg von klinischen Studien zu klinischer Praxis oder von der Grundlagenforschung zu angewandter Forschung tun sich oft Verständnis- und Datenlücken auf, sogenannte «Todestäler», wie Junt erklärte. Angesichts dieser Herausforderungen habe die Präzisionsmedizin eine entscheidende Wende gebracht: Früher hätte man Krankheiten einzeln betrachtet, heute sehe man die Verwandtschaft zwischen ihnen. Man habe ein molekulares Verständnis der Krankheiten entwickelt, indem man beispielsweise einem molekularen Atlas von Krankheiten einen Schritt näher gekommen sei. Dies könne neue Behandlungsmöglichkeiten eröffnen. Junt machte das an zwei Krankheiten deutlich, dem Lupus und dem Sjögren-Syndrom. Beides sind chronisch entzündliche Autoimmunerkrankungen, die auf molekularer Ebene verwandt sind. Er plädierte zum Schluss für die enge Zusammenarbeit von Betroffenen, Ärzten und Wissenschaftlerinnen. Nur so könne die Präzisionsmedizin vorangetrieben werden.  

Podiumsgespräch: Annette Magnin, Tobias Junt, Bettina Balmer, Markus Rudin, Stefan Felder, Oliver Senn, Kerstin Noëlle Vokinger

Kosten im Auge behalten

Im anschliessenden Podiumsgespräch diskutierten Persönlichkeiten aus Politik, Ethik, Wirtschaft, Akademie und Hausarztmedizin kontrovers zur Frage: «Wer interessiert sich schon für Präzisionsmedizin?». In der Diskussion ging es zum einen um die steigenden Kosten im Gesundheitswesen, zum anderen um Datensicherheit und ethische sowie juristische Grundvoraussetzungen von Big Data in der Medizin.

Bettina Balmer, Nationalrätin und Oberärztin am Kinderspital Zürich, erklärte, Präzisionsmedizin sei ihr ein persönliches Anliegen. Aus der Kindermedizin wisse sie, dass individualisierte Ansätze wichtig seien. Zwischen Machbarkeit und Bezahlbarkeit bestehe aber ein Spannungsfeld, darüber müsse diskutiert werden. Stefan Felder von der Universität Basel stimmte dem zu. Forschungskosten müssten immer auch im Verhältnis zu den steigenden Kosten im Gesundheitssystem gesehen werden. Oliver Senn vom Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich betonte die wichtige Rolle der Hausärztinnen und Hausärzte, die ja täglich auf die Patientinnen und Patienten ausgerichtete medizinische Diagnosen und Behandlungen anböten. «Wie sind jeweils der Erstkontakt, und 90 Prozent der Versorgung findet abschliessend in der Praxis statt. Dazu benötigen wir das ärztliche Gespräch, die klinische Untersuchung und manchmal ergänzend Labordaten.» Senn betonte damit die Effizienz der Primärversorgung. «Die Basis der patientenzentrierten Medizin ist eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung», so Senn.

Annette Magnin von der Kantonalen Ethikkommission Zürich hob die Rolle der Patientinnen und Patienten innerhalb der Forschungsprojekte hervor. «Ohne sie kann man auch die notwendige Forschung nicht durchführen», sagte sie. Man müsse sich deren Vertrauen erarbeiten und sie einbeziehen. Kerstin Vokinger, Professorin für Recht und Medizin an der Universität Zürich, äusserte sich zur Datensicherheit und zur Frage, wem die Gesundheitsdaten gehören, die in der Forschung anfallen. Es gebe Interessenskonflikte zwischen den verschiedenen Stakeholdern wie zum Beispiel den Patientinnen und Patienten, der Forschung oder der Industrie. «Alle wollen nur das Beste, nämlich die Medizin weiterbringen, aber dadurch, dass sehr viele Daten benötigt werden, – auch sensible Daten – können Konflikte entstehen», so Vokinger. Das Recht habe hier die Aufgabe, eine Balance zu schaffen.

Credits

Text: Marita Fuchs