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Universitäre Medizin Zürich (UMZH)

Präzisionsmedizin gegen Adipositas

Viele Menschen mit Übergewicht kämpfen gegen ihre Pfunde an – oft vergebens. Es fehlt an neuen, auf das jeweilige Individuum ausgerichteten Therapien. Das LOOBesity-Projekt möchte dies ändern und verfolgt einen präzisionsmedizinischen Ansatz zur Gewichtsreduktion. Ziel ist es, den Kampf gegen Übergewicht und damit verbundene Erkrankungen effektiver und individueller zu gestalten. Ein besonderes Augenmerk richten die Forschenden auf die Rolle des Stresshormons Cortisol.

Status: Forschung läuft
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Prof. Dr. Felix Beuschlein
Klinikdirektor der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung am Universitätsspital Zürich
+41 44 255 36 25
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25

Margrit M.* steigt langsam die Treppenstufen hoch, die zum Haupteingang des Universitätsspitals Zürich (USZ) führen. Die 63-Jährige hat einen Body-Mass-Index (BMI) von 32, damit gilt sie als adipös und nicht als übergewichtig, die Grenze liegt bei 30. Menschen mit BMI zwischen 18.5 und 24.9 gelten als normalgewichtig. Die überflüssigen Pfunde erschweren das Treppensteigen und verursachen die Schmerzen in ihren Kniegelenken. Margrit M. ist Patientin von Privatdozent Philipp Gerber, Leitender Arzt der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung des Universitätsspitals Zürich. In seiner Spezialsprechstunde versuchen Gerber und sein Team mit Ernährungsanpassungen, Bewegungstherapien und medikamentöser Behandlung den Patientinnen und Patienten bei der Gewichtsabnahme zu helfen. Auch Yannik W.* ist hier Patient. Der 40-jährige Krankenpfleger arbeitet im Schichtbetrieb. Seit der Lehre hat er ständig zugenommen, jetzt gilt er mit einem BMI von 35 als stark adipös. Yannik W. will unbedingt abnehmen, hat schon viele Diätversuche hinter sich, doch der bekannte Jo-Jo-Effekt hat all seine Hoffnungen zunichte gemacht.

Beide hatten sich bereit erklärt, an der Zürcher Adipositas-Kohorte teilzunehmen, die Patientendaten sammelt. Jetzt wurden Margrit M. und Yannik W. auch als Teilnehmende in das neue «LOOBesity-Projekt» aufgenommen. Sie haben sich damit bereit erklärt, regelmässig Angaben über ihren Gesundheitszustand zu machen, sich einer Biopsie ihres Fettgewebes und einer Untersuchung im Magnetresonanztomographen (MRI) zu unterziehen. Insgesamt sollen mehr als 300 übergewichtige oder adipöse Patientinnen und Patienten in die Studie im Rahmen des Forschungsprojekts «LOOBesity» eingebunden werden. Das Projekt steht noch ganz am Anfang, es startete im Jahr 2023. Alle Gesundheitsdaten werden im Laufe des Jahres von den Forschenden gesammelt und ausgewertet. Erste Ergebnisse werden Ende Jahr erwartet. Nach der Kohortenstudie ist für die nächsten Jahre eine randomisierte Studie geplant (siehe Glossar).

Interdisziplinäres Forschungsteam

Der Name LOOBesity setzt sich zusammen aus «The LOOP Zurich», dem translationalen Forschungszentrum mit Ausrichtung auf die Präzisionsmedizin, und Obesity (eng.: Fettleibigkeit). «Unter dem Dach von The LOOP Zurich verfolgen wir einen präzisionsmedizinischen Ansatz zur Gewichtsreduktion», sagt Milo Puhan, Direktor des Instituts für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich. «Anhand der Kohortenstudie wollen wir herausfinden, wie und bei wem welche Therapien und Medikamente gezielt wirken», ergänzt Felix Beuschlein, Klinikdirektor der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung am Universitätsspital Zürich. Milo Puhan, Felix Beuschlein und Philipp Gerber gehören zusammen mit Forschenden des Universitätsspitals und der ETH Zürich zum interdisziplinären Team des Projekts, das auf fünf Jahre angelegt ist und unter anderem von der Universitären Medizin Zürich finanziert wird (Forschungsgruppe).

Zu aktuellen Kohorte gehört auch Marion S.*. Sie musste jahrelang Cortison einnehmen, um ihr Asthma zu bekämpfen. Die jahrelange Einnahme verursachte bei ihr ein Cushing-Syndrom. Menschen mit einem Cushing-Syndrom sind übergewichtig, meist adipös. Das Fett lagert sich hauptsächlich an Oberkörper, Bauch und Hüfte ab. Arme und Beine sind aufgrund einer Muskelschwäche oft auffallend dünn. Betroffene haben ausserdem besonders häufig Begleiterkrankungen und ein ungünstiges Risikoprofil für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Cortisol als Game-Changer

Bei Marion S. wurde das Cushing-Syndrom durch Verabreichung von Cortison verursacht. Es gibt aber Menschen, die zu viel des körpereigenen Cortisols produzieren, auch bei ihnen stellt sich ein Cushing-Syndrom ein. Cortisol ist ein Hormon, das eine wichtige Rolle bei der Regulation des Kohlenhydratstoffwechsels, des Fettstoffwechsels und des Proteinstoffwechsels spielt.

Bei der Einzelzellanalyse des Gewebes aus den Biopsien der Kohortenstudie richten die Forschenden deshalb ein besonderes Augenmerk auf die Rolle des Cortisols. Dieses in der Nebenniere gebildete Stresshormon bewirkt, dass der Blutzucker steigt. Dieser überschüssige Blutzucker wird anschliessend als Fett speziell in der Bauchregion gespeichert.

Die Forschenden vermuten nun, dass durch eine medikamentöse Reduktion des Cortisols Gewicht abgebaut und somit Begleiterkrankungen günstig beeinflusst werden könnten. Noch weiss man allerdings nicht genau, was in den Fettzellen passiert und wie genau das Cortisol Einfluss auf die Gesundheit ausübt. «Bei manchen Menschen baden die Fettzellen in einem Meer aus Cortisol, obwohl es im Blut nicht erhöht ist», sagt Beuschlein. Findet man nun heraus, dass einige Patientinnen und Patienten besonders gut auf Medikamente ansprechen, die den Cortisol-Stoffwechsel verändern, wäre das ein grosser Schritt in Richtung präzisionsmedizinscher Behandlung bei Adipositas und Übergewicht, sagt Beuschlein. Noch weiss man nicht genau, wie die Stoffwechselprozesse ablaufen und auch nicht, wer von einer medikamentösen Reduktion des Cortisols profitieren könnte und wer nicht.

Marker für massgeschneiderte Therapien

Deshalb ist die Kenntnis eines persönlichen Profils wichtig für künftige gezielte Behandlungen. «Wir möchten mit LOOBesity Menschen mit Übergewicht und Adipositas differenziert betrachten und Marker für massgeschneiderte Therapien identifizieren. Damit geben wir den behandelnden Ärztinnen und Ärzten eine Handreichung für die Behandlung. Sie sollten künftig besser und frühzeitig einschätzen können, was für wen wirkt», erklärt Puhan.

Momentan stehen die Forschenden noch am Anfang und sammeln Daten der Kohorte. Es sind viele Daten, die hier zusammengetragen und mittels künstlicher Intelligenz analysiert werden. So etwa die molekularen Details der Einzelzellanalysen des Fettgewebes und der Cortisol-Konzentration. Hinzu kommen die Bilddaten der Magnetresonanztomographie. «Klinische Daten, Bildgebung und die molekularen Merkmale der Patientinnen und Patienten werden eingehend analysiert, um Parameter zu finden, die den Unterschied machen zwischen gesunden und ungesunden fettleibigen Personen», erklärt Puhan. Es gibt Menschen, die metabolisch und kardiovaskulär kaum Begleiterkrankungen haben, trotz ausgeprägter Adipositas. Diese Menschen werden als metabolisch gesund bezeichnet.

Einfallstor für zahllose Erkrankungen

In der Regel ist aber Übergewicht eine Art Einfallstor für zahllose Erkrankungen. Wie Margrit M., Yannik W. und Marion S. geht es vielen: Übergewichtige sind oft auch chronisch krank, die Folge sind Herz- und Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Asthma, Bluthochdruck und Krebs. Trotz all dieser negativen Fakten nimmt die Zahl der Übergewichtigen seit Jahren in den meisten Ländern stark zu. Mehr als die Hälfte der Erwachsenen in Europa ist nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO zu schwer. In der Schweiz sind rund 40 Prozent der erwachsenen Bevölkerung übergewichtig, davon sind etwa 11 Prozent adipös.

Einfach weniger essen? Die Ärztinnen und Ärzte der Spezialsprechstunden am Universitätsspital Zürich wissen, dass Verhaltensänderungen schwierig sind. Heute ist die multimodale Behandlung aus Ernährungsberatung, Bewegung und Medikamenten oder Operation der Standard, erklärt Felix Beuschlein. Doch wer profitiert wovon am meisten? Werden Medikamente verschrieben, profitieren einige, andere dagegen verlieren kaum Gewicht oder haben starke Nebenwirkungen.

Maximaler Nutzen, minimale Nachteile

Einige Medikamente, die heute schon gegen Übergewicht eingesetzt werden, sind nicht neu, – es sind Mittel, die bei Patienten mit Diabetes schon seit geraumer Zeit zum Einsatz kommen. Allen gemeinsam ist jedoch der Wirkstoff; ein Darmhormon namens GLP-1. Dieser hilft, nach dem Essen den Blutzuckerspiegel zu senken, indem er den Körper dazu bringt, mehr Insulin auszuschütten und weniger von dessen Gegenspieler Glucagon. Der Magen entleert sich langsamer, das Hungergefühl wird reduziert. Diese Medikamente – die im Moment einen Hype erleben – können jedoch Nebenwirkungen wie Übelkeit oder Darmbeschwerden verursachen. Was bei Menschen mit Diabetes eingesetzt wird, kann auch bei übergewichtigen und adipösen Menschen zur Gewichtsabnahme führen. Allerdings verlieren diese Medikamente an Wirkung, sobald sie abgesetzt werden, und noch weiss man wenig über langfristige unerwünschte Nebenwirkungen. Auch hier Licht ins Dunkel zu bringen, ist Ziel von LOOBesity. Zusammengefasst setzt dessen Ansatz auf eine personalisierte Behandlungsstrategie, welche die Wirkung von Cortisol moduliert und damit den Patientinnen und Patienten maximalen Nutzen und minimale Nachteile bei der Behandlung von Fettleibigkeit bietet.

*Namen der Patientinnen und Patienten geändert

Im Gespräch mit...

Hören

Felix Beuschlein

«Wir untersuchen, wie das Stresshormon Cortisol den Stoffwechsel beeinflusst»

Prof. Dr. med. Felix Beuschlein ist Direktor der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung des Universitätsspitals Zürich und Leiter des Adipositas Zentrum Zürich sowie Professor der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich.

6:00

Milo Puhan

«Für Menschen mit Übergewicht wollen wir geeignete Therapien finden»

Prof. Dr. med. Milo Puhan leitet das Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention und ist Professor an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich.

4:57

Philipp Gerber

«Wir wollen feststellen, wie das Übergewicht entstanden ist und wie Therapien beim einzelnen Patienten wirken»

PD Dr. med. Philipp Gerber ist klinischer Leiter des Adipositas Zentrums Zürich sowie Leitender Arzt für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung am Universitätsspital Zürich.

5:41

Nina Derron

«Präzisionsmedizin bietet ein riesiges Potenzial für die Behandlung von Adipositas»

Nina Derron ist Doktorandin an der Universität Zürich und an der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung des Universitätsspitals Zürich.

3:34
Von der Forschung in die Praxis

Service

Adipositas:
Sprechstunde am USZ

Wichtige Begriffe, kurz erklärt

Glossar

Adipositas:
Eine chronische Ernährungs- und Stoffwechselerkrankung. Sie ist durch ein starkes Übergewicht gekennzeichnet, das aus einer überdurchschnittlichen Vermehrung des Körperfettes resultiert.

Biomarker:
Für die Medizin messbare Parameter biologischer Prozesse, die prognostische oder diagnostische Aussagekraft, die daher als Indikatoren beispielsweise für Krankheiten herangezogen werden. Sie sind charakteristische biologische Merkmale, die objektiv gemessen werden können und auf einen normalen biologischen oder krankhaften Prozess im Körper hinweisen können. Bei einem Biomarker kann es sich um Zellen, Gene, Genprodukte oder bestimmte Moleküle wie Enzyme oder Hormone handeln.

Body-Mass-Index:
Der Body Mass-Index (BMI) gilt als Richtwert, das eigene Körpergewicht im Verhältnis zur Körpergrösse einzuschätzen. Der BMI wird berechnet aus dem Körpergewicht (kg) geteilt durch das Quadrat der Körpergrösse (m2). Der BMI berücksichtigt allerdings nicht das Alter oder die Verteilung von Körperfett und Muskelmasse. Erwachsene mit BMI zwischen 18.5 und 24.9 gelten als normalgewichtig. Bei Werten ab 25 spricht man von Übergewicht, ab 30 von Adipositas.

Kohortenstudie:
Bei einer Kohortenstudie wird eine bestimmte Gruppe von Menschen mit bestimmten Gemeinsamkeiten, im oben beschriebenen Fall Menschen mit Übergewicht und Adipositas, über einen längeren Zeitraum beobachtet wird. Die Idee hinter einer Kohortenstudie ist, Veränderungen oder Entwicklungen in dieser Gruppe im Laufe der Zeit zu verfolgen und festzustellen, ob es eine Verbindung zwischen den gemeinsamen Eigenschaften und bestimmten Ergebnissen gibt. Durch das Sammeln von Daten im Verlauf der Zeit können Forschende Ursache-Wirkungs-Beziehungen aufdecken.

Metabolisch:
Der Ausdruck bezieht sich auf den Stoffwechsel oder die biochemischen Prozesse, die in einem lebenden Organismus ablaufen, um Energie zu erzeugen, Nährstoffe zu verarbeiten und andere lebenswichtige Funktionen aufrechtzuerhalten.

Randomisierte Studie:
Eine randomisierte Studie ist eine Forschungsmethode, bei der die Teilnehmenden zufällig in verschiedene Gruppen eingeteilt werden. Eine Gruppe ist eine Interventionsgruppe, die einer bestimmte Behandlung, Massnahme oder Bedingung ausgesetzt wird, während die andere Gruppe, die Kontrollgruppe, entweder keine Behandlung oder eine andere Standardbehandlung erhält.

 

 

Wer finanziert dieses Projekt mit? (in Mio. CHF)

The LOOP Zurich - Medical Research Center
Die Laufzeit der Projektförderung
dauert von 2023 bis 2028

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Credits

Text: Marita Fuchs
Audio: Rebekka Haefeli
Fotos: Frank Brüderli
Universität Zürich: Felix Beuschlein, Milo Puhan
Universitätsspital Zürich: Felix Beuschlein, Nina Derron, Philipp Gerber
ETH Zürich: Ender Konukoglu
The LOOP Zurich - Medical Research Center: Jens Selige