Massgeschneiderte Behandlung von Harnwegsinfekten
Weltweit leiden etwa 150 Millionen Menschen an Harnwegsinfekten. Oftmals folgt auf eine Blasenentzündung erneut eine Infektion. Im Rahmen des «mTORUS»-Projektes wird nun den Ursachen auf den Grund gegangen und an innovativen Lösungen geforscht.
Kontakt
Prof. Dr. med. Thomas Kessler
Chefarzt Neuro-Urologie
an der Universitätsklinik Balgrist
Professor der Medizinischen
Fakultät an der Universität Zürich
+41 44 386 39 07
E-Mail
UMZH-Institutionen
Universität Zürich
ETH Zürich
Universitätsspital Zürich
Universitätsklinik Balgrist
Team
Barbara M.* hat wieder einmal eine Blasenentzündung. Mindestens fünf Mal pro Jahr erkrankt die 43-Jährige an dieser von Bakterien verursachten Infektion. Nach Auftreten der ersten Anzeichen trinkt sie viel Wasser – in der Hoffnung, die Bakterien so möglichst schnell aus der Blase spülen zu können. Doch meist hilft das nicht weiter. Hermann W. leidet unter einer chronischen Zystitis, wie die Blasenentzündung in der Fachsprache heisst. Er muss einen Dauerkatheter tragen, der das Risiko für Harnwegsinfekte erhöht. Als Diabetiker gehört auch Erich B. zur Risikogruppe für Blasenentzündungen. Er hat immer wieder Probleme mit seiner Blase. Um auf Nummer sicher zu gehen, verschreiben Ärztinnen und Ärzte bei Harnwegsinfekten in der Regel Antibiotika. Doch Antibiotika-Resistenzen nehmen zu und in vielen Fällen kommt trotz der Medikamente die Entzündung nach kurzer Zeit zurück, wird chronisch und kann nicht zuletzt Nierenleiden verursachen.
Antibiotikaresistenzen vermeiden
«Auslöser für Blasenentzündungen können zum Beispiel Darmbakterien sein, die in die Harnwege gelangen», sagt Thomas M. Kessler, Chefarzt Neuro-Urologie an der Universitätsklinik Balgrist und Professor der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich. Wenn Bakterien über die Harnröhre in die Blase verschleppt werden, können sie sich dort vermehren und zur Entzündung führen. Verabreichte Antibiotika zerstören dann aber nicht nur die schädlichen Keime, sondern auch die nützlichen Bakterien des gesunden Mikrobioms. Dies kann die natürliche Abwehr schwächen und die Wiederherstellung des gesunden Gleichgewichts erschweren. Behandlungsalternativen, die das Mikrobiom unterstützen, seien das Gebot der Stunde, so Thomas Kessler.
Um neue Behandlungsmöglichkeiten zu erforschen, leitet Kessler zusammen mit einem interdisziplinären Team das von The LOOP Zurich und der Monique Dornonville de la Cour-Stiftung unterstützte Forschungsprojekt «mTORUS» (Microbiome-based Therapeutic Options for Recurrent Urinary Symptoms). Das Projekt ist Mitte 2023 angelaufen. Ziel ist es, die Gefahr der Antibiotikaresistenzen zu umgehen und präzisionsmedizinische Therapien zu entwickeln.
Thomas M. Kessler leitet das mTORUS-Projekt zusammen mit einem interdisziplinären Team. Das Projekt läuft bis 2028 und wird unter anderem von The LOOP Zurich unterstützt.
Längsschnittstudie mit grossen Datensätzen
Im mTORUS-Projekt werden bei über 350 Probandinnen und Probanden über längere Zeit regelmässig Urin-, Blut- und Stuhlproben sowie Scheidenabstriche oder Blasengewebe gesammelt. «mTORUS ist eine Longitudinalstudie, bei der enorm viele Daten erhoben werden», sagt Kessler. Die Teilnehmenden der Studie sind in sechs Kategorien eingeteilt: gesunde Personen, Personen mit Bakterien in der Blase aber ohne Symptome, solche mit einem Dauerkatheter, Personen mit immer wiederkehrender Blasenentzündung resp. solche, die nach einer Blasenentzündung wieder gesund sind und als sechste Gruppe an Blasenkrebs erkrankte Personen. Zusammen mit klinischen Befunden und der Krankengeschichte wird ein digitales Abbild der Patientinnen und Patienten erstellt. Diese digitalen Modelle mit tausenden von Datenpunkten werden verwendet, um die Dynamik von Harnwegsinfekten besser zu verstehen, Indikatoren für Risiken zu identifizieren und eine auf das Individuum zugeschnittene Therapie zu ermöglichen.
Bakterien mit Tarnkappe
Doch warum kommt es bei einigen Personen immer wieder zu Blasenentzündungen? «Wir vermuten, dass bei Rückfällen das Mikrobiom der Blase aus dem Gleichgewicht gerät», sagt Thomas Kessler. Falsch sei die frühere Lehrmeinung, die Blase sei steril. Ursache der wiederholten Entzündungen könnten Bakterien sein, die sich in Zellen oder Zellübergängen der Blase einnisten – unerreichbar für Antibiotika, Bakteriophagen oder die Waffen des Immunsystems. «Es ist, als wären die Bakterien unsichtbar, versteckt unter einer Tarnkappe», erklärt Kessler weiter. Ungestört vermehren sie sich und können nach Tagen oder Wochen eine neue Infektion verursachen und das gesunde Mikrobiom verdrängen.
«In unserer Forschungsgruppe untersuchen wir schon länger das Zusammenspiel zwischen Immunsystem und Mikrobiom und können dieses Wissen im Rahmen von mTORUS nun auf den Harntrakt ausweiten», erklärt Emma Wetter Slack im Video. Sie ist Professorin für Mukosale Immunologie an der ETH Zürich.
Bakteriophagen: heilsame Viren
Die Forschenden um Kessler konnten bisher nachweisen, dass Bakteriophagen Keime in der Blase vernichten können. Die so genannten Bakterienfresser tun das ebenso erfolgreich wie Antibiotika! «Ein äusserst spannender und vielversprechender Befund; Bakteriophagen erweisen sich als heilsame Viren», bilanziert Kessler. «Wir haben die Bakteriophagen in enger Zusammenarbeit mit Forschenden der ETH Zürich genetisch so verändert, dass sie gezielt die schädlichen Bakterien in der Blase zerstören.» Die Zusammenarbeit der Forschenden wird auch im Rahmen des ImmunoPhage-Projektes weiter vorangetrieben.
Trotz der möglicherweise revolutionären Wirkung kommen die potenziellen Helfer in der Schweiz bisher jedoch nur in der Forschung zum Einsatz. Der Grund sind ein Mangel an qualitativ hochwertigen Studien und die damit einhergehenden fehlenden Grundlagen gemäss der Gesetzgebung zur Arzneimittelzulassung. Mit mTORUS könnte sich das ändern.
«Push-Pull»-Behandlung
«Mit der «Push-Pull»-Strategie werden wir zum einen gentechnisch veränderte Bakteriophagen zur gezielten Beseitigung von Krankheitserregern einsetzen und zum anderen ein gesundes Mikrobiom in die Blase transplantieren. Das Ganze basiert auf komplexen Datenanalysen, die uns mithilfe von Bioinformatik und computergestützten Modellen die optimale Zusammensetzung des Mikrobioms verraten», sagt Kessler. Das Mikrobiom kann unter Umständen bei jedem Menschen etwas anders aussehen, deshalb lassen sich die Forschenden von einem präzisionsmedizinischen Ansatz leiten.
Blasengesundheit ohne Antibiotika
Die aus den Proben generierten Daten bilden in Kombination mit neuen Computermodellen die Grundlage für die Forschung zur Blasengesundheit. «In Zukunft können Erkenntnisse über das Mikrobiom der Blase, die Wirkung der Bakteriophagen sowie die begleitende Diagnostik Patientinnen und Patienten in Zürich und weltweit dabei helfen, sich aus der chronischen Abhängigkeit von Antibiotika zu befreien. Eventuell kann man sogar Krankheiten vorbeugen, bevor sie sich manifestieren oder zu einem ernsten Verlauf führen», hofft der Urologe Kessler. «Diese Erkenntnisse könnten auch auf andere bakterielle Infektionen sowie auf systemische Entzündungskrankheiten und eventuell Blasenkrebs ausgedehnt werden. Doch es braucht noch weitere Forschung, bis die Bakteriophagen und die Erkenntnisse über das Mikrobiom der Blase ihre heilsame Wirkung bei den Patientinnen und Patienten entfalten können», so Kessler.
*Namen geändert
«Die computergestützten Modelle lassen uns genauer verstehen, wie die Interaktion zwischen dem Immunsystem, dem Mikrobiom und den verschiedenen Behandlungen aussieht», erklärt Gunnar Rätsch im Video. Er ist Professor für Informatik und Stellvertretender Leiter des Instituts für Maschinelles Lernen an der ETH Zürich.
Service
Blasenentzündung?
Sprechstunde an der Universitätsklinik Balgrist
Abklärung und Behandlung am Universitätsspital Zürich
Glossar
Harnwegsinfektion:
Wenn sich Bakterien in den Harnwegen befinden, dort eine entzündliche Reaktion auslösen und die Betroffenen Beschwerden haben, nennt man das Harnwegsinfektion. Aus anatomischen Gründen treten Harnwegsinfekte häufiger bei Frauen auf. Bei Männern steigt das Risiko mit dem Alter.
Bakteriophagen:
Viren, die sich in Bakterien einschleusen und diese mit ihrem Erbgut umprogrammieren. Die Viren vermehren sich und zerstören die Bakterien (griech. Phagos = Esser).
Längsschnittstudie:
Studientyp, bei dem über einen definierten längeren Zeitraum eine Stichprobe hinsichtlich zuvor festgelegter Merkmale untersucht wird.
Wer finanziert dieses Projekt mit? (in Mio. CHF)
The LOOP Zurich - Medical Research Center
Die Laufzeit der Projektförderung
dauert von 2023 bis 2028
Credits
Text: Marita Fuchs
Fotos: Frank Brüderli
Video: Daniel Grunder
Universität Zürich: Onur Boyman, Thomas M. Kessler, Lorenz Leitner, Shawna McCallin
Universitätsklinik Balgrist: Thomas M. Kessler, Shawna McCallin, Lorenz Leitner
Universitätsspital Zürich: Onur Boyman
ETH Zürich: Gunnar Rätsch, Shinichi Sunagawa, Emma Wetter Slack, Martin J. Loessner, Nicola Zamboni, André Kahles