Bakterienfresser gegen Blasenentzündungen
Antibiotika-Resistenzen werden bei der Behandlung von Harnwegsinfekten zunehmend zum Problem. Darum braucht es dringend Alternativen. ImmunoPhage setzt genau dort an: Im Zentrum des Projektes steht die Entwicklung therapeutischer Bakteriophagen, die Harnwegsinfektionen heilen.
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Prof. Dr. med. Onur Boyman
Direktor der Klinik für Immunologie
am Universitätsspital Zürich
Professor der Medizinischen
Fakultät an der Universität Zürich
+41 44 255 20 69
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Antibiotika-Resistenzen sind ein riesiges Problem
Für Professor Thomas M. Kessler war es bisher ein Kampf gegen Windmühlen; ein Kampf, der ihn zuweilen beelendete und hilflos machte. Kessler ist Chefarzt Neuro-Urologie an der Universitätsklinik Balgrist und Professor der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich. In seiner Sprechstunde empfängt er täglich Patientinnen und Patienten, die an schmerzhaften und gefährlichen Harnwegsinfekten leiden. Bis anhin gab es dagegen praktisch nur ein Mittel: Antibiotika. Doch Antibiotika-Resistenzen nehmen zu und Antibiotika haben den Nachteil, dass sie auch «gute» Bakterien in der Darmflora zerstören können. Neue Therapien sind also dringend gefragt.
«Antibiotika-Resistenzen sind international ein riesiges Problem. Wir brauchen unbedingt Alternativen», betont Kessler. Der Arzt initiierte das interdisziplinäre Forschungsprojekt ImmunoPhage, das einen grundlegend neuen Behandlungsansatz verfolgt. Die ersten Resultate sind äusserst vielversprechend. Sie basieren auf einer Studie, an der Kesslers Team in Georgien beteiligt war. Das weltweit einzigartige Projekt ImmunoPhage könnte die Behandlung bakterieller Infektionen revolutionieren.
In der Universitätsklinik Balgrist werden einerseits Patientinnen und Patienten behandelt, bei denen nach einer Erkrankung oder einem Unfall ein komplexes neurologisches Grundproblem besteht. Dazu zählen Parkinson-Betroffene, querschnittgelähmte Menschen sowie solche, die einen Hirnschlag erlitten haben oder an Multipler Sklerose leiden. Andererseits betreuen Thomas M. Kessler und sein Team auch Personen, die an sich gesund sind, jedoch unter wiederkehrenden Harnwegsinfekten wie Blasenentzündungen leiden. Diese schränken die Lebensqualität stark ein. «Abgesehen von Symptomen wie Schmerzen und häufigem Wasserlösen können solche Infekte gesundheitsgefährdend sein, wenn sie sich auf die Nieren ausdehnen. Auf Antibiotika sprechen die Erreger aber oftmals nicht an», erklärt Kessler. Der Arzt leidet mit den Betroffenen mit: «Das ist eine starke Motivation, mich für neue Therapien einzusetzen.»
Viren, die das Immunsystem stärken
Als Alternative zu Antibiotika setzt er auf Bakteriophagen, die im Zentrum des Projekts ImmunoPhage stehen. Bakteriophagen sind Viren, die sich in Bakterien einschleusen und diese mit ihrem Erbgut umprogrammieren. Die Bakteriophagen vermehren sich und zerstören gleichzeitig immer mehr Bakterien. Die Bakterienkiller oder Bakterienfresser werden im Rahmen von ImmunoPhage gezielt zur Bekämpfung von Harnwegsinfekten eingesetzt. Zu einem späteren Zeitpunkt könnte die Methode auch bei der Therapie anderer chronischer Infekte wie beispielsweise Lungen- oder Mittelohrentzündungen helfen.
Professor Thomas M. Kessler von der Universitätsklinik Balgrist arbeitet eng mit den Forschenden um Professor Martin J. Loessner von der ETH Zürich sowie Professor Onur Boyman von der Universität Zürich zusammen. Loessner und sein Team gehören weltweit zu den führenden Bakteriophagen-Spezialistinnen- und Spezialisten. Die Molekularbiologen und Genetikerinnen sind für das Engineering zuständig. Sie isolieren die Bakteriophagen, die in der Natur vorkommen, und vermehren diese. Im Labor werden die Designer-Bakteriophagen mit genetischen Informationen angereichert. Die Bakteriophagen sollen daraufhin gezielt die Bakterien angreifen, die im Harnwegsbereich Infekte auslösen.
Shawna McCallin und ihr Team prüfen die Aktivität von Phagen anhand einer Patientenprobe mit isolierten Bakterien in einer Petrischale. (v.l.n.r: Sonja Milek, wissenschaftliche Mitarbeiterin; Shawna McCallin, Projektleiterin; Jonas van Belleghem, Postdoktorand; Swenja Lassen, Doktorandin)
Die Probe wird 18 Stunden lang mit 78'200-facher Schwerkraft geschleudert, um Phagen von bakteriellen Verunreinigungen zu trennen. Bis zu 1'000'000'000'000 Phagen befinden sich innerhalb der sichtbaren dünnen weissen Linie. Dieser Prozess ist ein wesentlicher Schritt in der Vorbereitung von Immunzellen-Tests und Therapien.
Bald für Patientinnen und Patienten verfügbar
«Das Netzwerk aus Fachleuten verschiedener Disziplinen ist essenziell», erklärt ETH-Professor Loessner. «Während wir die Bakteriophagen-Experten sind, brauchen wir auch Spezialistinnen und Spezialisten für das Immunsystem.» Deshalb ist die Forschungsgruppe von Professor Onur Boyman an Bord. Er ist Direktor der Klinik für Immunologie des Universitätsspitals Zürich und Professor der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich. Unter Leitung seines Teams werden die Bakteriophagen zusätzlich mit Botenstoffen angereichert, die das Immunsystem stimulieren sollen. Das gezielt gestärkte Immunsystem soll künftige, neue Infektionen abwehren. Boyman sagt zum Projekt: «Wir sind die Fachpersonen für das körpereigene Abwehrsystem. Mich fasziniert die Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen, die ganz andere Expertisen besitzen als wir.»
Wenn alles läuft wie geplant, könnten erste Designer-Bakteriophagen in der Schweiz in ungefähr ein bis zwei Jahren im Rahmen klinischer Studien eingesetzt werden. Geplant ist, Patientinnen und Patienten die Bakterienkiller in Flüssigkeit und über Katheter direkt in die Blase zu verabreichen. ImmunoPhage-Initiant Thomas M. Kessler ist zuversichtlich: «Ich hoffe, dass wir bis in fünf bis zehn Jahren eine wirksame Alternative zu Antibiotika etabliert haben.»
Mit interdisziplinärer Zusammenarbeit zur Spitzenforschung. Das Forschungs-Kernteam von«ImmunoPhage»: Lukas Heeb, Jochen Klumpp, Samuel Kilcher (oberste Reihe, von links nach rechts), Vera Neumeier, Hendrick Koliwer-Brandl, Matthew Dunne, Aleksandra Svorjova (zweite Reihe, von links nach rechts), Martin J. Loessner, Lorenz Leitner, Susanne Meile, Jiemin Du, Jonas van Belleghem (dritte Reihe, von links nach rechts), Thomas M. Kessler, Swenja Lassen, Shawna McCallin, Sonja Milek, Onur Boyman (unterste Reihe, von links nach rechts).
Sehen
Im PULS-Beitrag von SRF sprechen Prof. Dr. med. Thomas M. Kessler und Prof. Dr. Martin J. Loessner über das Potenzial der Bakteriophagen.
Hören
Alaz Özcan Özge (Beitrag in Englisch, Oktober 2022)
«Wir entwickeln Bakteriophagen, die das Immunsystem der Blase gezielt stärken»
Dr. Alaz Özcan Özge ist Postdoc an der Klinik für Immunologie des Universitätsspitals Zürich und der Universität Zürich.
Ellen-Aleksandra Svorjova (Beitrag in Englisch, Oktober 2022)
«Zürich ist einzigartig – nur hier finde ich so viel Expertise in Gehdistanz»
Ellen-Aleksandra Svorjova ist Doktorandin am Institut für Lebensmittelwissenschaften, Ernährung und Gesundheit der ETH Zürich.
Lorenz Leitner (Oktober 2022)
«Als Arzt behandle ich Patientinnen und Patienten mit Harnwegsinfekten. Dem Team kann ich wichtige Daten zu den Erregern liefern»
Dr. med. Lorenz Leitner ist Oberarzt der Neuro-Urologie an der Universitätsklinik Balgrist.
Matthew Dunne (Beitrag in Englisch, Oktober 2022)
«Bakteriophagen mit genetischen Informationen anzureichern ist wie Lego spielen»
Dr. Matthew Dunne ist Senior Scientist und Oberassistent am Institut für Lebensmittelwissenschaften, Ernährung und Gesundheit der ETH Zürich.
Onur Boyman (Juli 2021)
«Mich fasziniert es, Erkenntnisse aus der Forschung in den klinischen Alltag zu bringen»
Prof. Dr. med. Onur Boyman ist Direktor der Klinik für Immunologie des Universitätsspitals Zürich und Professor der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich.
Martin J. Loessner (Juli 2021)
«Antibiotika-Resistenzen gefährden herkömmliche Behandlungen»
Prof. Dr. Martin J. Loessner ist Professor für Lebensmittelmikrobiologie am Institut für Lebensmittelwissenschaften, Ernährung und Gesundheit der ETH Zürich.
Thomas M. Kessler (Juli 2021)
«Eine revolutionäre Therapie, die nachhaltig und möglichst ohne Nebenwirkungen ist»
Prof. Dr. med. Thomas M. Kessler ist Chefarzt Neuro-Urologie an der Universitätsklinik Balgrist und Professor der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich.
Service
Blasenentzündung?
Sprechstunde an der Universitätsklinik Balgrist
Abklärung und Behandlung am Universitätsspital Zürich
Glossar
Blasenentzündung (Harnwegsinfektion, Zystitis):
Normalerweise sind sowohl die Harnwege als auch der ausgeschiedene Urin keimfrei. Wenn sich Bakterien in den Harnwegen befinden, dort eine entzündliche Reaktion auslösen und die Betroffenen Beschwerden haben, nennt man das Harnwegsinfektion. Aus anatomischen Gründen treten Harnwegsinfekte am häufigsten bei kleinen Kindern und Frauen auf. Bei Männern steigt das Risiko mit dem Alter.
Bakteriophagen:
Bakteriophagen: Viren, die sich in Bakterien einschleusen und diese mit ihrem Erbgut umprogrammieren. Die Viren vermehren sich und zerstören die Bakterien. (griech. Phagos = Esser).
Immunophagen:
Bakteriophagen werden im Labor mit Botenstoffen angereichert, die gezielt die Immunabwehr unterstützen. Die spezifische antimikrobielle Aktivität wird also mit immunmodulierenden Eigenschaften kombiniert.
Neuro-Urologie:
Beschäftigt sich mit den Erkrankungen der ableitenden Harnwege und der Geschlechtsorgane nach einer Schädigung der sie versorgenden Nerven.
Immunologie:
Die Lehre der biologischen und biochemischen Grundlagen der körperlichen Abwehr von Krankheitserregern wie Bakterien, Viren und Pilzen sowie anderen körperfremden Stoffen.
Wer finanziert dieses Projekt mit? (in Mio. CHF)
Hochschulmedizin Zürich (HMZ)
Die Laufzeit der Projektförderung
dauert von 2021 bis 2024
Credits
Text und Audio: Rebekka Haefeli
Fotos: Frank Brüderli
Video SRF: Link zum Beitrag
Universität Zürich: Onur Boyman, Hendrik Koliwer-Brandl
Universitätsklinik Balgrist: Thomas M. Kessler, Shawna McCallin, Lorenz Leitner, Sonja Milek, Swenja Lassen. Vera Neumeier
Universitätsspital Zürich: Onur Boyman, Jonas Van Belleghem, Lukas Heeb
ETH Zürich: Martin J. Loessner, Matthew Dunne, Samuel Kilcher, Jochen Klumpp, Aleksandra Svorjova, Susanne Meile, Jiemin Du
Hochschulmedizin Zürich: Corina Schütt