Forschung bringt Hoffnung
für Kinder ­­mit aggressivem Hirntumor

Hirntumore bei Kindern sind zwar selten, dafür umso gefährlicher. Trotz medizinischen Fortschritten besteht bei aggressiven Formen nach wie vor keine Chance auf Heilung. In Zürich spannen Klinikerinnen und Kliniker sowie Grundlagenforschende zusammen, um die Prognosen für die betroffenen Kinder zu verbessern. Ihre Analysen des Zellmaterials geben bereits Hinweise auf neue Therapiemöglichkeiten.

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Prof. Dr. Javad Nazarian
Leiter des DIPG/DMG-Zentrums des Universitäts-Kinderspital Zürich
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Es ist eine erschütternde Diagnose: Die Eltern der 6-jährigen Emma* erfahren, dass ihre Tochter an einem seltenen, aggressiven Hirntumor leidet. Bei diesem Tumor, dem sogenannten Diffusen Intrinsischen Ponsgliom (DIPG), bleibt den meisten Betroffenen nur noch 9 bis 12 Monate zu leben. Nur 10 Prozent haben nach der Diagnose eine Überlebensrate von zwei Jahren. Die Ursache von Gliomen, also Tumoren im Gehirn und Rückenmark, ist bei Kindern und Jugendlichen grösstenteils unbekannt. Studien haben Zusammenhänge zwischen Umwelt- und Infektionseinflüssen untersucht. Einzig die Exposition von ionisierender Strahlung könnte als ein Risikofaktor in Frage kommen. Aus molekularen Studien an Tumorgewebe ist heute bekannt, dass sich Gliome bei Kindern von denjenigen bei Erwachsenen unterscheiden. Erfahrungen, die bisher in der Erwachsenentumormedizin gesammelt wurde, sind auf Kinder kaum anwendbar.

Bei Emma zeigen die Aufnahmen der Magnetresonanz­tomographie ein eindeutiges Bild: Das Gliom sitzt bei ihr im Hirnstamm und ist so eng mit dem umgebenden Hirngewebe verwoben, dass eine Operation nicht möglich ist. Ein chirurgischer Eingriff würde dabei zu viel vom gesunden Gewebe des Gehirns verletzen.

Einzigartige Studie für mehr Lebenszeit

Früher stand bei Hirntumoren wie dem DIPG und dem Diffusen Mittelliniengliom (DMG) einzig die Bestrahlung als Therapiemöglichkeit zur Verfügung. Diese verlängerte die Lebenszeit nur um wenige Monate. Den behandelnden Ärztinnen und Ärzten waren schlicht die Hände gebunden. Heute besteht für Emma Hoffnung, – zwar nicht auf Heilung – aber auf eine Verlängerung der Lebenszeit. Die junge Patientin hat die Möglichkeit, an einer Studie des DIPG/DMG-Zentrums teilzunehmen. Professorin Sabine Müller ist die klinische Leiterin des Zentrums. «In den letzten Jahren hat sich das Verständnis der Biologie dieser Tumoren erheblich verbessert, und es ist nun klar, dass DMGs, einschliesslich DIPGs, eine heterogene Gruppe von Tumoren sind, die einen personalisierten Therapieansatz erfordern», sagt Müller.

Javad Nazarian leitet das Forschungslabor des DIPG/DMG-Zentrums. «Bislang vernachlässigte die Forschung seltene Krebsarten bei Kindern», erklärt der Wissenschaftler. Das Zentrum wurde mit dem Ziel gegründet, neue Therapien für Kinder mit seltenen Gliomen (DIPG und DMG) zu entwickeln. Die Forschungsgruppe will neue Biomarker entdecken, die helfen, das Ansprechen oder Versagen von Therapien besser zu verstehen.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler evaluieren und erforschen neue therapeutische Optionen, indem sie Wirkstoffe an patienteneigenen Tumorzellen testen. Sie untersuchen Zellmodelle, die Eigenschaften menschlicher Krebserkrankungen nachahmen. Und sie arbeiten an der Entdeckung neuartiger Medikamente und Medikamentenkombinationen, die direkt in die Klinik übertragen werden können und so den betroffenen Kindern helfen.

Offen mit den Kindern sprechen

Wie die jungen Patientinnen und Patienten, die an der Studie teilnehmen, wird auch Emma und ihre Familie vom Onkologie-Team des Kinderspitals Zürich betreut. Eine dieser Ärztinnen ist die Onkologin Ana Guerreiro Stücklin, SNF Eccellenza Professorin der UZH. «Tumore, die früher übergreifend als Ponsgliom klassifiziert wurden, sind in Wirklichkeit je nach Person anders, sie unterscheiden sich stark in Biologie und klinischem Verlauf», so Guerreiro Stücklin. Sie erklärt Emmas Eltern, dass die molekulare und genetische Analyse des Tumorgewebes sowie des Blutes und der Spinalflüssigkeit ihrer Tochter wichtige Hinweise über die Art des Tumors geben können. Denn jeder Krebs ist einzigartig und so sollte auch die Behandlung mit Medikamenten speziell auf Emma abgestimmt werden.

Ana Guerreiro Stücklin hat als Onkologin viel Erfahrung im Gespräch mit Eltern, die nach der Diagnose Hirntumor in der Regel überfordert und traurig sind. Sie rät den Angehörigen, ganz offen mit ihrem Kind zu sprechen. «Kinder merken sofort, wenn die Erwachsenen sich verstellen», sagt sie. Es ist besser, auf kindgerechte Weise zu erklären, was passiert ist und die einzelnen Behandlungsschritte zu erläutern.

Individuelle Daten dank Biopsie

Der erste Schritt nach der Diagnose ist die Biopsie. Noch bis in die späten 1990er Jahren wurde sie bei Kindern mit DIPG nicht empfohlen, das Risiko einer Verletzung war schlicht zu gross. Bisher wurde ausschliesslich die Bildgebung verwendet. Das hat sich seither fundamental verändert: Die Fortschritte in der Neurochirurgie der letzten Jahrzehnte machen eine Gewebeentnahme heute möglich. «Wir haben einen systematischen Arbeitsablauf für sichere, robotergestützte Biopsien am Hirnstamm entwickelt», erklärt Müller. Das entnommene Tumormaterial wird im Labor auf molekularer Ebene analysiert. Die dadurch gewonnenen Daten liefern wertvolle Erkenntnisse über die Tumorprognose und individuelle Behandlungsstrategien, und zwar in einem klinisch relevanten Zeitrahmen.

Im Labor analysieren Forschende das Tumorgewebe auf molekularer Ebene.

Forschung und Klinik arbeiten eng zusammen

So auch bei Emma: Das Team des DIPG/DMG-Zentrums untersucht das Gewebe der jungen Patientin, um die Biologie ihres Tumors besser zu verstehen. Im Labor vermehren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die entnommenen Zellen – eine oft schwierige und langwierige Aufgabe. Anschliessend testen sie verschiedene Wirkstoffe. So lassen sich wichtige Rückschlüsse ziehen: «Wir sind auf dem besten Weg, wirksame Therapien für einige der kompliziertesten Krebsarten im Kindesalter zu finden», sagt Nazarian. Denn: «Bei den DIPGs haben wir in den letzten zwei Jahren eine leichte Verbesserung des Gesamtüberlebens unserer Patientinnen und Patienten festgestellt.» Auch Immuntherapien und andere Studien, einschliesslich solcher, die auf den Tumorstoffwechsel abzielen, haben erste klinische Erfolge gezeigt. Beim Tumorstoffwechsel werden alle biochemischen Vorgänge untersucht, die innerhalb der Zellen ablaufen. «Leider wissen wir immer noch nicht, wie wir die betroffenen Kinder heilen können. Dazu müssen wir fundierte, biologisch ausgerichtete Strategien, in Kombination miteinander bringen», sagt Nazarian.

Kraft der Kinder beeindruckt

Sind Medikamente identifiziert, die spezifisch bei einem Tumor helfen könnten, ist die Überwindung der Blut-Hirn-Schranke eine weitere Hürde. Diese Barriere reguliert den Stoffaustausch zwischen Blutkreislauf und zentralem Nervensystem und dient in erster Linie dazu, das Gehirn vor Infektionen und unerwünschten Molekülen zu schützen. Gleichzeitig behindert die Schranke aber auch die Übertragung wirksamer Therapien auf den Tumor. «Zu den neuen Technologien gehört der fokussierte Ultraschall (FUS), bei dem Mikrobläschen zur Öffnung der Schranke eingesetzt werden», sagt Nazarian. Derzeit gibt es einige klinische Studien, die die Sicherheit dieser Technik untersuchen. «Wir glauben, dass FUS die Behandlung von Hirntumoren bei Kindern revolutionieren wird.» 

Während die Forschenden im Labor nach der besten medikamentösen Therapie suchen, erhält Emma Bestrahlungen, die im Paul-Scherrer-Institut durchgeführt werden, denn hier gibt es Geräte, die punktgenau den Tumor treffen können. Emma ist tapfer und weiss, dass sie stillhalten muss, während sie bestrahlt wird. Auch die Familie hat inzwischen Hoffnung geschöpft.

Sobald der passende Medikamentenmix für Emma bereitgestellt ist, hoffen alle, dass sie auf die Therapie anspricht. Ana Guerreiro Stücklin begleitet das Mädchen auf diesem Weg. Die Motivation für ihre Arbeit holt sich die Onkologin in der Klinik. «Ich merke, wie wichtig die Forschung ist, vor allem wenn die Eltern fragen, ob man nicht noch mehr für das Kind tun kann.» Und sie sei immer wieder beeindruckt von der Kraft der Kinder, wie sie es schaffen, trotz allem ihren Lebenswillen nicht zu verlieren.

*Name von der Redaktion geändert.

Campus Lengg: ein Forschungszentrum für Exzellenz

Ab Herbst 2024 ist das neue Universitäts-Kinderspital in Zürich-Lengg bezugsbereit. Das Bauprojekt umfasst auch ein neues Gebäude für Forschung und Lehre. Geforscht wird heute schon: Unter der Leitung von Prof. Dr. med. Jean-Pierre Bourquin, Chefarzt Onkologie des Universität-Kinderspitals Zürich, arbeiten verschiedene Forschungsteams an neuen Therapieansätzen, die die Heilungschancen bei Kindern mit seltenen Krebserkrankungen weiter verbessern sollen. Die Teams bestehen aus Forscherinnen und Forschern der Universität Zürich, der ETH Zürich sowie des Universität-Kinderspitals Zürich. Das DIPG/DMG-Zentrum Zürich ist Teil des Campus Lengg und konzentriert sich auf die Entwicklung und Umsetzung verbesserter Therapien für Kinder mit der Diagnose DIPG/DMG / aggressivem Hirntumor. Im Zentrum evaluieren und erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler neue therapeutische Optionen, die in die Klinik übertragen werden können.

Die Studien des Zentrums werden in Zusammenarbeit mit dem Pacific Pediatric Neuro-Oncology Consortium (PNOC) durchgeführt. Leiterin ist Professorin Sabine Müller. Das PNOC ist ein internationales Konsortium mit Zentren in den Vereinigten Staaten, Europa, Asien und Australien mit dem Ziel, Kindern und jungen Erwachsenen mit Hirntumoren neue Therapien anzubieten.

Im Gespräch mit...

Hören

Javad Nazarian (Beitrag in Englisch)

«In Zürich behandelten wir bislang über 300 betroffene Kinder aus der ganzen Welt»

Prof. Dr. Javad Nazarian ist Leiter des DIPG/DMG-Zentrums des Universitäts-Kinderspital Zürich. Er ist zudem Associate Professor für Pädiatrie an der George Washington University in Washington D.C., USA.

6:18

Sabine Müller

«Ich war noch nie so hoffnungsvoll – wir sind nah dran, Therapien für die betroffenen Kinder zu entwickeln»

Prof. Dr. med. Sabine Müller ist Leitende Ärztin für Onkologie am Universitäts-Kinderspital Zürich und leitet das klinische Programm des DIPG/DMG-Zentrums in Zürich. Sie ist Titularprofessorin der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich und Professorin an der University of California San Francisco (UCSF).

6:06

Ana Guerreiro Stücklin

«Unser Projekt ermöglicht präzisere Therapien für das betroffene Kind»

Prof. Dr. med. Ana Guerreiro Stücklin ist Kinder-Neuroonkologin am Universitäts-Kinderspital Zürich sowie Professorin der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich.

6:11

Sarah Brüningk

«Wir lernen aus Daten und ziehen Rückschlüsse für mögliche neue Behandlungsmethoden»

Dr. Sarah Brüningk ist Postdoc am Institut für maschinelles Lernen und rechnergestützte Biologie der ETH Zürich.

7:37
Von der Forschung in die Praxis

Service

Unterstützungsangebote für Eltern: Erkrankt ein Kind schwer, ist dies sehr belastend für die ganze Familie. Das Universitäts-Kinderspital Zürich bietet Eltern und Angehörigen Unterstützung wie Sozialberatung, Besuchs- und Hütedienst oder psychologische Unterstützung an.

Zweitmeinung: Familien von betroffenen Kindern können sich ans DIPG/DMG-Zentrum wenden. Sie können eine Beurteilung und Zweitmeinung vom Forschungsteam erhalten.

Übersicht aller laufenden onkologischen Studien der universitären Spitäler Zürich: Krebsstudien Zürich

Wichtige Begriffe, kurz erklärt

Glossar

Biopsie:
Bei einer Biopsie entnimmt medizinisches Fachpersonal eine Gewebeprobe aus einem auffällig veränderten Gewebe.

Blut-Hirn-Schranke:
Die Blut-Hirn-Schranke ist eine organische Barriere zwischen dem Blutkreislauf und dem zentralen Nervensystem.

Diffuses Intrinsisches Ponsgliom (DIPG):
Bösartiger Tumor, der in einem bestimmten Areal des Hirnstammes (med. Pons) wächst. Es ist eine seltene Tumorerkrankung, die meist bei Kindern auftritt.

Diffuses Mittelliniengliom (DMG):
Diese bösartigen Tumore entstehen in den Mittellinienstrukturen des Gehirns wie dem Thalamus, dem Hirnstamm und dem Rückenmark.

Magnetresonanztomographie:
Die Magnetresonanztomographie, abgekürzt MRT, ist ein bildgebendes Verfahren. Es erzeugt Schichtbilder vom Inneren des Körpers, mit deren Hilfe der Aufbau und die Funktion von Organen und Geweben studiert werden können.

Credits

Text und Audio: Marita Fuchs, Rebekka Haefeli
Fotos: Frank Brüderli
Universität Zürich: Ana Guerreiro Stücklin
ETH Zürich: Sarah Brüningk
Universitäts-Kinderspital Zürich: Ana Guerreiro Stücklin, Sabine Müller, Javad Nazarian