Dem Stress auf der Spur

Was sind die die psychischen und körperlichen Folgen von Stress – und wie lassen sie sich behandeln? Forschende des Projekts «STRESS» gehen diesen Fragen nach. Dabei spannen Human- und Tierforschung eng zusammen.

Kontakt

Prof. Dr. Birgit Kleim
Professorin für Experimentelle Psychopathologie und Psychotherapie an der Universität Zürich
Leiterin des Psychologisch-psychotherapeutischen Diensts der Erwachsenenpsychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich
+41 58 384 23 51
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Team
45

Manuela* ist eine von 105 Medizinstudierenden, die als Probandin am Projekt «STRESS» teilnimmt. Die 25-Jährige hat in ihrem Studium bereits viele stressige Prüfungssituationen erlebt. Nun steht sie kurz vor ihrem Praktikum auf der Notfallstation und muss sich am Patientenbett bewähren. Wie wird sie den Stress bewältigen? Das interessiert auch Birgit Kleim. Sie ist Professorin für Experimentelle Psychopathologie und Psychotherapie an der Universität Zürich und Leiterin des Psychologisch-psychotherapeutischen Diensts der Erwachsenenpsychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Sie befasst sich schon seit längerem wissenschaftlich mit dem Phänomen Stress. Zusammen mit Isabelle Mansuy, Professorin für Neuroepigenetik an der Universität Zürich und der ETH Zürich, leitet sie das Forschungsprojekt «STRESS», das 2022 startete.

Von Tiermodellen bis zu Langzeitstudien: Ein umfassender Blick auf Stress

Im STRESS-Projekt arbeiten mehr als zehn Forschungsgruppen in fünf Teilprojekten zusammen: Birgit Kleim leitet die prospektive Kohortenstudie mit den Medizinstudierenden. Mansuy forscht am Tiermodell zu Stress und seinen Langzeitwirkungen, während eine andere Gruppe die molekularen RNA-Muster untersucht. Eine Gruppe aus dem Bereich der Humanforschung prüft in einer Longitudinalstudie den Stress während der Covid-19-Pandemie und wie Indikatoren der Emotionsregulation im Gehirn über die Lebensspanne mit Resilienz zusammenhängen.

Mit Pupillenfeedback Stress reduzieren

Eine weitere Gruppe des Projekts STRESS analysiert den Zusammenhang zwischen Pupillengrösse und dem Erregungszustand des Gehirns. Unsere Pupillen weiten sich, wenn wir gestresst sind und verengen sich, wenn wir uns beruhigen. Bisher war unklar, ob sich Informationen über die Pupillengrösse indirekt auch nutzen lassen, um die Erregungszentren im Gehirn bewusst zu beeinflussen. Mit entsprechendem Biofeedback könnten Menschen lernen, besser mit Stress umzugehen. Erste Ergebnisse der Forschenden zeigen, dass dies tatsächlich möglich ist, was neue Möglichkeiten in der Behandlung von stressbedingten Erkrankungen eröffnen könnte. VR-Brillen können eingesetzt werden, um in Echtzeit Feedback zur Pupillengrösse zu liefern und sollen daher längerfristig breite Anwendung in entsprechenden Studien finden.

Individuelle Strategien zur Stressbewältigung

Auch in Birgit Kleims Gruppe steht die Erforschung von Strategien zur Stressbewältigung im Vordergrund. Sie beschreibt die Forschung mit der Studierenden-Kohorte – zu der auch Manuela gehört – als besonders wertvolle Gelegenheit. «Wir konnten die Medizinstudierenden vor und während der Stressbelastung auf den Stationen, auf denen sie ihr Praktikum absolvieren, untersuchen und befragen.» Und so hat das Team um Kleim die Kohorte zwölf Monate lang auf Angst, Depressionssymptome, psychosoziale Funktionsfähigkeit und Stressempfinden untersucht. Auch Manuela füllte regelmässig Fragebogen aus, unterzog sich Hirnscans im MRT und gab Blutproben ab. «Wir sind daran, die gesammelten Daten auszuwerten. Besonders interessant  sind die individuellen Gesundheitsverläufe», sagt Kleim. Was jetzt schon feststeht: In der gleichen stressbeladenen Situation reagieren Menschen unterschiedlich. Die Forschenden wollen nun herausfinden, welche Strategien zur Stressbewältigung die Probandinnen und Probanden anwenden, wer sich als besonders stressresistent erweist und wer stark unter dem Stress gelitten hat.

Manuela zum Beispiel hat aufgrund ihres familiären Hintergrunds grossen Respekt vor Autoritäten. Kritik von Vorgesetzten bedeutet für sie enormen Stress. Sie verarbeitet ihn, indem sie mit Freunden über die Situation spricht. Eine Hypothese der Forschenden: Personen sind stressresilienter, wenn sie bereits mehrere Strategien gegen Stress entwickelt haben oder während der Stressmomente neue Taktiken für den Umgang mit Stress entdecken. Kleims Ziel ist es, stressreduzierende Konzepte zu identifizieren, um Personen zu helfen, die schlecht mit Stress umgehen können.

Die verschiedenen Forschungsgruppen des STRESS-Projektes im Überblick (Grafik)

Maus und Mensch im Stressvergleich

Auch Tiere wie Mäuse erleben Stress und verarbeiten ihn auf sehr unterschiedliche Weise. Die Forschenden aus der Gruppe von Isabelle Mansuy vergleichen Blutproben aus der Studierendenkohorte von Brigit Kleim mit Proben von Mäusen. «Bei Stress verändert sich die Konzentration von Biomarkern, das zeigt sich beim Menschen und auch im Tiermodell», sagt Isabelle Mansuy. Menschen, die Stresssituationen als überfordernd und unlösbar interpretieren, schütten beispielsweise mehr Cortisol aus – ein Stresshormon, das dafür sorgt, dass das Herz schneller schlägt, die Atmung beschleunigt, sich der Blutzuckerspiegel erhöht und Blutzucker vermehrt von Muskelzellen aufgenommen wird. Mehrere Bereiche des Gehirns sind an Stressreaktionen beteiligt, darunter der Hypothalamus, die Amygdala oder der Locus Coeruleus. Letzterer spielt eine wichtige Rolle bei der Regulierung von Stress und emotionalen Reaktionen. Dieser tief im Gehirn liegende Kern reguliert über den Botenstoff Noradrenalin unseren Erregungszustand.

«Wir haben festgestellt, dass es sowohl im Tiermodell als auch bei den Menschen Überlappungen gibt», sagt Isabelle Mansuy. Im STRESS-Projekt kooperieren deshalb auch Grundlagenforschende, die am Tiermodell arbeiten, mit Forschenden aus dem Humanbereich. Dies ist das Besondere an diesem Projekt. «Wir können Vergleiche zwischen tierischer und menschlicher Physiologie ziehen, die uns helfen zu verstehen, wie der menschliche Körper funktioniert», so Kleim.

Stress als Risikofaktor für chronische Erkrankungen

Zwar ist Stress nicht grundsätzlich negativ und kann unter Umständen sogar neue Energien freisetzen und alternative Verhaltensweisen fördern. Als Dauerzustand ist er allerdings problematisch und kann Schlafprobleme, Bluthochdruck und Rückenschmerzen verursachen. Darüber hinaus werden zahlreiche Krankheiten mit Stress in Verbindung gebracht. Burn-out zum Beispiel betrifft Jahr für Jahr mehr Menschen. Zudem ist Stress ein Risikofaktor für chronische Erkrankungen, darunter Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Typ II oder neurologische Erkrankungen wie Demenz. Die wirtschaftlichen Auswirkungen von Stress werden heute in der Schweiz mittlerweile auf mehrere Milliarden Franken geschätzt. Und auch die Jugend ist betroffen: Zu wissen, wie man besser mit Stress umgeht, ist das wichtigste Bedürfnis, das von Schweizer Jugendlichen in Umfragen angegeben wird.

Forschung zu den Langzeitfolgen von Stress

Isabelle Mansuys Arbeit mit den Mäusen folgt einem epigenetischen Ansatz und ermöglicht dadurch Einblicke in die Vererbung über Generationen hinweg. Die Folgen von Traumata können nämlich über Generationen weitergegeben werden. Mansuys Team konnte charakteristische RNA-Muster nachweisen, die sich nur bei gestressten Tieren zeigten. Die Tatsache, dass ein Teil dieser Muster nicht nur bei Mäusen, sondern auch beim Menschen auf traumatische Erlebnisse hinweist, öffnet die Tür für weitere Forschungen über Langzeitfolgen von Stress.

Langfristig streben die Forschenden des STRESS-Projekts einen Paradigmenwechsel im aktuellen Verständnis stressbedingter Krankheiten an.  Das Forschungsteam erhofft sich zwei Dinge, so Mansuy. «Erstens wollen wir unser Verständnis für das komplexe Phänomen Stress erweitern, und zweitens möchten wir unser Wissen in die Praxis umsetzen. So soll Menschen, die stark unter Stress leiden, in Zukunft noch besser geholfen werden können.»

*Name geändert

4 Fragen an Prof. Dr. Todd Hare
«Stress betrifft Millionen von Menschen jeden Alters und stellt ein bedeutendes Gesundheitsproblem dar. Im STRESS-Konsortium ist es unser Ziel, das Risiko für Stress und die Resilienz dagegen besser zu verstehen», erklärt Todd Hare im Video. Er ist Professor für Neuroökonomie und menschliche Entwicklung an der Universität Zürich.
Von der Forschung in die Praxis

Service

Universitätsspital Zürich:
Übungen zur Stressreduktion

Behandlungsangebot der Psychiatrischen Universitätsklinik bei Belastungsstörungen und Burnout

Wichtige Begriffe, kurz erklärt

Glossar

Amygdala:
Teil des limbischen Systems im Gehirn, auch Mandelkern genannt. Regelt emotionale Äusserungen; vor allem die Entstehung von Angstgefühlen ist im Mandelkern verankert.

Biofeedback:
Eine Methode, bei der Menschen lernen, ihre Körperfunktionen zu kontrollieren, indem sie visuelle oder akustische Rückmeldungen erhalten.

Epigenetik:
Forschungsfeld, in dem untersucht wird, wie Umweltfaktoren die Aktivität der Gene beeinflussen, ohne die DNA-Sequenz zu zu verändern.

Hypothalamus:
Teil des Zwischenhirns, reguliert vegetative und endokrine Vorgänge. So steuert er u.a. Atmung, Kreislauf, Körpertemperatur, Sexualverhalten sowie die Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme.

Locus Coeruleus:
Kleiner Kern im Gehirnstamm, der eine wichtige Rolle bei der Regulation von Stress und emotionalen Reaktionen spielt.

Wer finanziert dieses Projekt mit? (in Mio. CHF)

Hochschulmedizin Zürich (HMZ)
Die Projektförderung
startete 2022

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Credits

Text: Marita Fuchs
Fotos: Frank Brüderli
Video: Daniel Grunder
Universität Zürich: Birgit Kleim, Isabelle Mansuy, Todd Hare, Urs Meyer, Erich Seifritz, Michael Shanahan
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich: Birgit Kleim, Erich Seifritz
ETH Zürich: Isabelle Mansuy, Nicole Wenderoth, Johannes Bohacek