In Zürich wird der OP neu gedacht: Mit dem Projekt SURGENT verbinden Forschende der Universität Zürich, des Universitätsspitals Balgrist und der ETH Zürich künstliche Intelligenz (KI), Sensorik und Simulation. Damit revolutionieren sie nicht nur den Eingriff selbst, sondern auch die Ausbildung des chirurgischen Nachwuchses.
Prof. Dr. med. Mazda Farshad
Medizinischer Spitaldirektor und
Direktor Wirbelsäulenzentrum
Universitätsklinik Balgrist und
Professor der Medizinischen
Fakultät Universität Zürich
+41 44 386 12 65
E-Mail
Universität Zürich
ETH Zürich
Universitätsspital Zürich
Universitätsklinik Balgrist
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Es ist ruhig im Operationssaal. Nur das leise Surren einer Kamera unter der Decke ist zu hören. Die Chirurgin steht leicht gebeugt über dem Operationstisch, vor ihr ein digitaler Zwilling der Wirbelsäule des Patienten – massstabgetreu, in der Luft schwebend, direkt über dem realen Körper. Kein hektisches Zurufen, kein Suchen nach Informationen. Der nächste OP-Schritt wird bereits durch eine diskrete Markierung auf dem OP-Tuch angekündigt, ergänzt durch eine visuelle Rückmeldung der KI: «Inzision bestätigt. Wirbelsäule in Zielposition.»
Die Instrumente – klassisch metallisch, aber mit Sensoren versehen – senden kontinuierlich Daten über Position, Kraft und Gewebestatus an eine zentrale Recheneinheit. Eine Software analysiert in Echtzeit Handbewegungen, Blickrichtungen und biomechanische Belastung. Die beschriebene Szene ist keine Science-Fiction, sondern eine Zukunft, die in Zürich bereits begonnen hat.
2018 wurde das SURGENT-Projekt (Surgeon Enhancing Technologies) als ein Projekt der Universität Zürich und der Universitätsklinik Balgrist lanciert. Das Ziel: die Operationsplanung und -durchführung grundlegend neu denken – weg von Bildschirmen und statischen Messungen, hin zu einem ganzheitlichen, KI-gestützten System. Im Fokus stand die Wirbelsäulenchirurgie, in der besonders präzise Eingriffe über den Behandlungserfolg entscheiden.
Insgesamt sechs Patientinnen und Patienten mit chronischen Rückenleiden, die auf keine konventionelle Therapie angesprochen hatten, wurden im Rahmen des Projekts operiert. Schrauben und Stäbe wurden millimetergenau implantiert – unterstützt durch eine Extended-Reality-Technologie, die damals noch über Mixed-Reality-Brillen eingeblendet wurde.
Schon während des Projekts zeichnete sich ab: Diese grossen Brillen würden überflüssig werden. Moderne Sensoren und KI-Module werden künftig zunehmend die Aufgabe übernehmen, relevante Informationen direkt an die Chirurginnen und Chirurgen weiterzugeben – in Echtzeit. Statt klobiger Headsets tragen in Zukunft Chirurginnen und Chirurgen leichte, unauffällige Datenbrillen mit eingeblendeten Informationen. Diese Brillen zeigen etwa Patientendaten, Navigation im Körper oder Warnungen – ohne das Sichtfeld zu blockieren. Die Operationen werden damit nicht nur sicherer, sondern auch planbarer.
Prof. Dr. Mazda Farshad operiert den ersten Wirbelsäulen-Patienten mit der Augmented-Reality-Technologie.
Der Erfolg der ersten Eingriffe legte den Grundstein für den nächsten Schritt: die Gründung des translationalen Forschungs- und Lehrzentrums «OR-X» am Universitätsspital Balgrist – ein Ort, an dem Zukunftstechnologien in einer realitätsnahen Umgebung erprobt und trainiert werden. «Im OR-X setzt man längst nicht mehr nur auf Theorie oder das klassische ‹see one, do one›-Prinzip», erklärt Philipp Fürnstahl. Er ist wissenschaftlicher Koordinator des Forschungsprojekts SURGENT, das von UZH-Professor Mazda Farshad und ETH-Professor Mirko Meboldt geleitet wurde. Das ‹see one, do one›-Prinzip bedeutet in der Medizin: Zuerst zuschauen, wie ein Eingriff gemacht wird – dann selbst durchführen.
Mit dem Folgeprojekt «PROFICIENCY», gefördert von Innosuisse, werde die chirurgische Weiterbildung in ein realitätsnahes, technologisch fortgeschrittenes Trainingssystem verlagert. Ärztinnen und Ärzte trainieren mit echten Instrumenten an Knochenmodellen und werden dabei durch Extended Reality angeleitet. Gleichzeitig dokumentieren Kameras und Sensoren jede Bewegung, jede Blickrichtung, jede Abweichung. Aus den Daten entstehen fotorealistische 3D-Rekonstruktionen – sogenannte digitale Zwillinge –, die analysiert, wiederholt und verglichen werden können. «Unsere Vision ist eine standardisierte, messbare und KI-optimierte Ausbildung», sagt Fürnstahl.
Parallel dazu baut das Projekt «IMMERSE» ein interdisziplinäres Lernökosystem auf: Extended-Reality-Anwendungen, die auf künstlicher Intelligenz basieren, sollen schon in der universitären Ausbildung zur Normalität werden – nicht nur in der Medizin. Ärztinnen und Ärzte erleben hier digitale Simulationen, die mit präzisem Feedback gekoppelt sind: Die Leistung wird analysiert, ausgewertet, verbessert – eine Revolution der Lehre, datenbasiert und immersiv.
Und schliesslich «AUGMEDI»: Das UZH-Start-up bringt fotorealistische Anatomie-Modelle aufs Tablet, Smartphone oder den Bildschirm. Über 3 600 anatomische Strukturen können interaktiv erkundet und chirurgische Schritte virtuell geübt werden – ergänzt durch KI-gestützte Lernanalysen. Erste Studien zeigen: Das Wissen wird damit nicht nur zugänglicher, sondern auch bis zu 40 Prozent schneller verankert.
Gleichzeitig wachsen neue Generationen von Chirurginnen und Chirurgen heran, die mit digitalen Zwillingen, Extended-Reality-Simulationen und KI-gesteuertem Feedback lernen. Was in Zürich mit SURGENT begann, ist inzwischen mehr als ein Projekt. Es ist ein neues chirurgisches Selbstverständnis: technologiegestützt, präzise, lernfähig.
Prof. Dr. med. Mazda Farshad ist Chefarzt für Wirbelsäulenchirurgie und Orthopädie, Direktor des Wirbelsäulenzentrums an der Universitätsklinik Balgrist und Professor der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich.
Prof. Dr. Mirko Meboldt ist Professor für Produktentwicklung und Konstruktion an der ETH Zürich.
Prof. Dr. Philipp Fürnstahl ist Professor für Orthopädische Forschung mit Schwerpunkt der Anwendung in Computer Sciences der Universität Zürich und Leiter des ROCS-Teams an der Universitätsklinik Balgrist.
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SURGENT:
Name des Projektes, Abkürzung von: SURGeon ENhancing Technologies. Eine Technologie, welche die Fähigkeit der Chirurgin oder des Chirurgen erweitert.
Extended Reality (XR):
Extended Reality ist ein Oberbegriff für Technologien, die reale und virtuelle Umgebungen kombinieren. Dazu gehören:
Inzision:
Chirurgischer Schnitt in das Gewebe, meist mit einem Skalpell.
Text: Marita Fuchs
Audio: Rebekka Haefeli
Fotos: Tagesanzeiger, Sabina Bobst
Universität Zürich: Mazda Farshad, Philipp Fürnstahl
Universitätsklinik Balgrist: Mazda Farshad, Philipp Fürnstahl
ETH Zürich: Mirko Meboldt, Marc Pollefeys