Frauen haben ein höheres Risiko, unter Long-COVID-Symptomen zu leiden, während Männer schwerer akut erkranken und häufiger an einer COVID-19-Infektion sterben. Zu dieser Erkenntnis kam das Forschungsteam um Prof. Dr. med. Cathérine Gebhard dank der Auswertung von klinischen Patientendaten sowie von Umfrageergebnissen bei über 6000 Personen, welche unterschiedlich schwer an COVID-19 erkrankt waren.
Prof. Dr. med. Cathérine Gebhard
Oberärztin an der Klinik für Nuklearmedizin
und SNF-Förderprofessorin für
kardiovaskuläre Gendermedizin und
kardiale Bildgebung an der Universität Zürich
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ETH Zürich
Universitätsspital Zürich
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«Wir haben viele schwere Schicksale gesehen. Manche Patientinnen und Patienten mussten mehrere Monate auf der Intensivstation gepflegt werden.» Dr. med. Philipp Bühler, Intensivmediziner am Universitätsspital Zürich, spricht auch für seine Kolleginnen und Kollegen aus den Ärzte- und Pflegeteams, wenn er sagt: «Die tragischen Fälle, in denen wir sehr lange, aber schliesslich erfolglos um das Leben von Patienten kämpften, haben uns mitgenommen.» Allerdings gab es im bisherigen Verlauf der Pandemie auch Lichtblicke: Patientinnen, die lange beatmet werden mussten, haben sich erholt. Die Therapien, die ständig optimiert wurden, zeigten ihre Wirkung.
Dazu trug die Forschung bei, die sehr früh einsetzte. Intensivmedizinerinnen und Infektiologen aus dem Universitätsspital haben bereits im Frühling 2020 begonnen, eine Biodatenbank mit Blutproben aufzubauen. Bald ergab sich eine intensive Zusammenarbeit mit der Forschungsgruppe um die Förderprofessorin des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) Cathérine Gebhard von der Universität Zürich. Die Gendermedizinerin und Kardiologin untersucht die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei COVID-19-Erkrankungen. Ein erstes Studienresultat liegt vor: Frauen hatten bisher ein höheres Risiko als Männer, unter Langzeitfolgen einer COVID-19-Infektion zu leiden, sogenannten Long-COVID-Symptomen. Das Geschlecht der Erkrankten hat also einen Einfluss auf die Entwicklung von Langzeitfolgen. Auf der anderen Seite erkrankten Männer schwerer akut und starben häufiger an einer COVID-19-Infektion.
Das Team um SNF-Förderprofessorin Gebhard konnte auf die Biodatenbank der Intensivmedizinerinnen und -mediziner zurückgreifen. Diese hatten den Patientinnen und Patienten nicht nur regelmässig Blutproben entnommen, sondern sammelten während der intensivmedizinischen Betreuung auch Sekrete, zum Beispiel aus der Lunge. In den Blutproben wurden unter anderem Geschlechts- und Stresshormone gemessen. Zusammen mit individuellen Informationen zu den betroffenen Personen wie etwa über Vorerkrankungen ergaben die Analysen dieser Proben ein umfassendes Bild. «Wir haben Synergien genutzt und profitierten alle von den Sichtweisen der verschiedenen Disziplinen», erklärt Intensivmediziner Bühler.
Zusätzlich zu den klinischen Daten der Patientinnen und Patienten führte die Forschungsgruppe um die Gendermedizinerin Gebhard eine Umfrage unter knapp 6000 Personen durch. Diese waren unterschiedlich schwer an COVID-19 erkrankt. Sechs bis neun Monate nach der akuten Erkrankung beantworteten sie rund 70 Fragen, unter anderem zu den Langzeitfolgen. Die Fragen bezogen sich auch auf soziokulturelle Faktoren wie etwa die Belastung im häuslichen Bereich und den damit verbundenen Stress. Auf Aspekte also, die bei Männern und Frauen tendenziell unterschiedlich sind.
Das Geschlecht hat einen Einfluss auf die Entwicklung von Langzeitfolgen. Das Team von Cathérine Gebhard prüft Blutproben und misst unter anderem Geschlechts- und Stresshormone.
«Typisch weibliches Rollenverhalten mit einer grossen Belastung durch Haushalt und Kindererziehung scheint anscheinend ein Risiko für einen Verlauf mit Long-COVID-Symptomen zu sein», fasst Cathérine Gebhard zusammen. «Am meisten überrascht hat mich an unserer Studie, dass eine Schwangerschaft oder eine positiv wahrgenommene Betreuungsaufgabe eher vor Long COVID schützt.» Wie kann dieses Wissen konkret genutzt werden? Gebhard und Bühler hoffen vor allem auf präventive Effekte. Der Intensivmediziner sagt, aufgrund der nun bekannten, belastenden Faktoren könnten Patientinnen und Patienten künftig rasch als Risikopersonen identifiziert werden. «Man könnte bei diesen beispielsweise die Diagnostik und die Überwachung frühzeitig intensivieren.»
In die Studie involviert sind mehrere Zentren – neben der Universität Zürich und dem Universitätsspital Zürich auch die Universitätsspitäler Bern und Basel. Ausserdem ist eine Forschungsgruppe des Instituts für Pharmazeutische Wissenschaften der ETH Zürich und des Paul Scherrer Instituts unter der Leitung von Prof. Dr. Roger Schibli beteiligt. Sein Team ist auf die Nuklearmedizin spezialisiert und entwickelt radioaktive Substanzen, um Krankheiten zu diagnostizieren. Die radioaktiven Stoffe machen beispielsweise Tumoren in der Bildgebung sichtbar.
Diese Technologie soll künftig auch genutzt werden, um COVID-19-Risikopatientinnen und -patienten zu identifizieren und den Krankheitsverlauf zu beobachten. Die Forschenden wollen mit radioaktiven Stoffen die Rezeptoren an Körperzellen markieren, an die das Coronavirus andockt, um in die Zellen einzudringen. Die Resultate könnte man wiederum auf Geschlechterunterschiede untersuchen. Zurzeit erarbeiten die Wissenschaftler die Grundlagen, unter anderem mit Experimenten an Mäusen. Dazu Roger Schibli: «Unser Know-how auf diesem Gebiet und unsere Infrastruktur sind schweizweit einzigartig.»
Aktuelle Forschungsprojekte gehen der Frage nach, inwiefern Gender – also nicht das biologische, sondern das soziokulturelle Geschlecht (z.B. Rollen und Verhaltensweisen von Männern und Frauen) – auch einen Einfluss auf die Schwere der akuten COVID-19 Erkrankung hat. In einer im August 2022 publizierten Studie verglich die Forschungsgruppe um Cathérine Gebhard daher den Einfluss von biologischen Faktoren mit dem Einfluss von soziokulturellen Unterschieden zwischen Mann und Frau. Dabei stellten sie fest: Die Gründe für die schwerere Akuterkrankung bei Männern beruhen grösstenteils auf der Biologie und weniger auf dem soziokulturellen Geschlecht. Hierzu zählen unter anderem Geschlechterunterschiede bei den Risikofaktoren für Herz-Kreislauferkrankungen und bei den Immunantworten.
Das soziale Geschlecht hingegen spielt hinsichtlich der Schwere der akuten Erkrankung nur eine marginale Rolle. Einzig Parameter wie eine starke Persönlichkeit oder ein tieferes Bildungsniveau können auf einen schweren Verlauf hindeuten.
Studie zu Risikofaktoren für Long COVID
Studie zu Gender-Einflüssen auf eine akute COVID-Erkrankung
Review zu den geschlechterspezifischen Unterschieden bei der COVID-19-Erkrankung
Prof. Dr. med. Cathérine Gebhard ist Oberärztin an der Klinik für Nuklearmedizin und SNF-Förderprofessorin für kardiovaskuläre Gendermedizin und kardiale Bildgebung an der Universität Zürich.
Prof. Dr. Roger Schibli ist Professor am Institut für Pharmazeutische Wissenschaften der ETH Zürich.
Dr. med. Karl Philipp Bühler ist Oberarzt und stellvertretender Leiter der Intensivstation am Universitätsspital Zürich.
Long-COVID-Sprechstunde am Universitätsspital Zürich
Coronazentrum der Universität Zürich
COVID-19 und SARS-CoV-2:
Die Coronaviren bilden eine Virenfamilie und können unterschiedliche Erkrankungen auslösen. Momentan sind beim Menschen sieben verschiedene Coronaviren bekannt. Das aktuelle Coronavirus heisst offiziell SARS-CoV2. Die Erkrankung, welche durch eine SARS-CoV2-Infektion ausgelöst wird, heisst COVID-19.
Long COVID:
Einige Betroffene erholen sich nach einer COVID-19-Infektion nur sehr zögerlich und leiden auch nach der Akutphase der Infektion anhaltend unter Symptomen wie Belastungs-Atemnot, Husten, Schmerzen des Brustkorbs oder Müdigkeit. Die Gesamtheit dieses Bildes nennt man Long COVID. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
Nuklearmedizin:
Entwickelt radioaktive Substanzen, um Krankheiten zu diagnostizieren. Die radioaktiven Stoffe machen beispielsweise Tumoren in der Bildgebung sichtbar.
Biobank:
Eine Sammlung von Stoffen wie Körperflüssigkeiten oder Gewebeproben mit assoziierten, in Datenbanken verwalteten Daten.
Gendermedizin:
Das biologische und das soziokulturelle Geschlecht haben Auswirkungen auf Präsentation, Verlauf, Therapie und Diagnostik von Krankheiten. Geschlechtsspezifische Unterschiede werden in der Medizin jedoch häufig vernachlässigt. Die Gendermedizin setzt genau hier an und bezeichnet eine Form der medizinischen Behandlung, welche ebendiese Unterschiede berücksichtigt. Als eine der ersten Initiativen ihrer Art in der Schweiz setzt sich die Universität Zürich mit der Gendermedizin an der Medizinischen Fakultät für die Implementierung der geschlechtsspezifischen Medizin in Forschung, Klinik und Lehre ein.
The LOOP Zurich - Medical Research Center
Die Laufzeit der Projektförderung
dauert von 2020 bis 2022
Texte und Audio: Rebekka Haefeli
Fotos: Frank Brüderli
Universität Zürich: Cathérine Gebhard
Universitätsspital Zürich: Karl Philipp Bühler, Cathérine Gebhard
ETH Zürich: Roger Schibli
The LOOP Zurich - Medical Research Center: Jens Selige